Wahlkombinationen die überraschen
Junge Menschen haben bei der Bundestagswahl 2021 vor allem Grüne oder FDP gewählt. Eine Kombination, die nur auf den ersten Blick überrascht. Denn beide Lager haben ähnliche Ziele – auch wenn die Wege sich zum Teil unterscheiden.
Von denen, die in diesem Jahr zum ersten Mal wählen durften, hat sich die Mehrheit für Grüne oder FDP entschieden, jeweils 23 Prozent. Bei den 18- bis 24-Jährigen war das ähnlich, zeigen Analysen von Infratest dimap. Hier liegen die Grünen knapp vor den Liberalen. Andere Parteien folgen mit weitem Abstand.
In vielen Themenfeldern gibt es bei beiden Parteien große Schnittmengen: Cannabis-Freigabe, bessere Bildung, Digitalisierung statt Bürokratie, liberale Lebensentfaltung, Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre und auch der Klimaschutz.
Gemeinsamer Wunsch: Veränderung und Freiheit
Entscheidend für das Wahlverhalten der U30-Generation ist aber sicherlich die Politik der Großen Koalition während der Corona-Pandemie. Der Lockdown benachteiligte vor allem junge Menschen.
In den Schulen, bei der Ausbildung, an den Universitäten hakte es bei der Digitalisierung, und die Bildung kam ins Hintertreffen. Auch deshalb, so der Kemptener Jugendforscher Simon Schnetzer in einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur, konnten Grüne und FDP zusammen fast die Hälfte der Stimmen von Jungwählerinnen und -wählern bekommen: „Dieser Wunsch nach Veränderung und auch der Wunsch nach Freiheit war eine ganz wichtige Ausgangslage.“
Weltoffener, liberaler und individueller Lebensstil
Ein solcher gemeinsamer Spirit ist zu finden bei der veganen Aktivistin von „Fridays for Future“ ebenso wie bei einem jungen Mann, der mit seinen Freunden ein Start-up gründet und in Aktien investiert. Sie wollen die Welt voranbringen, Verkrustetes aufbrechen. Dafür sind Digitalisierung und eine chancengerechte Bildung Schlüsselfaktoren. Sowohl FDP als auch Grüne setzen sich dafür ein.
Auch viele gesellschaftspolitische Themen verbinden die jungen Leute, die entweder die Grünen oder die Liberalen gewählt haben: Weltoffenheit steht bei beiden Parteien weit oben auf der Agenda. Sie stehen fest hinter der Europäischen Union und setzen als einzige Parteien auf eine moderne Einwanderungspolitik nach Punkten ähnlich wie in Kanada. Beide Parteien wollen zudem Cannabis legalisieren und setzen sich für LGBTQ-Rechte ein.
Keine Lagerbildung beim Klimaschutz
Während die Grünen viel schneller als alle anderen Parteien, nämlich schon 2030, aus der Kohle raus und bis 2035 das gesamte Energiesystem auf Erneuerbare umgestellt haben wollen, setzt die FDP auf den Markt und den Erfindungsgeist sowie einen starken CO2-Preis. Bei den jungen Wählerinnen und Wählern besteht kein Lagerdenken: Auch denjenigen, die für die Liberalen votierten, ist der Klimaschutz und das Erreichen der Pariser Klimaziele sehr wichtig. Nur die Vorstellungen über die richtigen Wege dahin unterscheiden sich eben teilweise deutlich.
„Ökosoziale eher Frauen, Ökomaterielle eher Männer“
Im Wahlverhalten gibt es allerdings große geschlechtsspezifische Unterschiede, wie Analysen von Infratest dimap zeigen. Junge Männer zwischen 18 und 24 wählten deutlich stärker die FDP (27 Prozent) als die Grünen (20 Prozent). Bei den Frauen in dieser Altersstufe war es genau umgekehrt. Sie entschieden sich mit 26 Prozent häufiger für die Grünen als für die FDP (16 Prozent).
Der Forscher Simon Schnetzer aus dem Allgäu, der diverse Studien zur Jugend gemacht hat, vermutet, „dass die weiblichen jungen Wählerinnen, eher das Ökosoziale wählen, bei den Grünen sich finden, und die männlichen Ökomateriellen eher bei der FDP“. Annalena Baerbock, Grünen-Co-Vorsitzende und Kanzlerkandidatin ihrer Partei, sowie die vielen Spitzenfrauen von „Fridays for Future“ wie zum Beispiel Luisa Neubauer bieten sich als Rollenvorbilder an. Während der im Wahlkampf cool inszenierte FDP-Chef Christian Lindner möglicherweise mehr junge Männer begeistert hat. Bei den jungen Männern kommt hinzu, dass sich in den letzten Jahren eine dynamische Gründerszene entwickelt hat, die den „visionären Machertyp“ bevorzugt.
Gemeinsame oder individuelle Unzufriedenheit
Dass die Grünen bei der jungen Generation stark abschneiden, war für die meisten keine Überraschung. Der Erfolg der FDP in dieser Altersstufe hat dagegen viele verwundert. Ein Grund der seitdem häufiger genannt wird, ist der professionelle Wahlkampf der FDP auf sozialen Plattformen, wie zum Beispiel TikTok. Diesen hätten viele schlicht unterschätzt, heißt es.
Eine andere Ursache ist die öffentliche Sichtbarkeit. Während viele jüngere Grünen-Anhänger bei Demonstrationen ihren Ärger, etwa über die Klimapolitik, gut wahrnehmbar ausdrücken, ist das bei liberalen Jungwählern oft anders. In den Tagesthemen fasste Frank Brettschneider, Kommunikationswissenschaftler an der Uni Hohenheim, es so zusammen: „Die Unzufriedenheit, die FDP-Wähler antreibt, die ist unsichtbarer, die ist individuell. Man geht nicht auf die Straße, aber ist trotzdem gemeinsam verärgert.“
Generationengerechtigkeit wird eingefordert
Junge Menschen wissen heute auch, dass sie mit keiner sicheren Rente mehr rechnen können und es angesichts der Immobilienverteuerung für sie wahrscheinlich unmöglich wird, sich über Wohneigentum abzusichern. Grüne und FDP möchten das deutsche Rentensystem ummodeln.
Grundsätzlich haben junge Wählerinnen und Wähler auch einen anderen Zeithorizont. Sie wollen auch die 80er- und 90er-Jahre dieses Jahrhunderts auf einem intakten Planten und in einem demokratischen, weltoffenen, aber auch wirtschaftlich erfolgreichen Land erleben – auch das ist dem jungen Wahlpublikum von FDP und Grünen gemein.
Simon Schnetzer in Deutschlandfunk Kultur: „Es wird vielleicht die Mega-Aufgabe der nächsten Regierung sein, mehr Beteiligung zu ermöglichen, dass junge Menschen sich einbringen können, um nicht auf Dauer die Jungen gegen sich aufzubringen.“ Mit dem besonderen Wählerverhalten im Rücken kommt es also auf Grüne und FDP zu, sich für die Interessen der jungen Generation einzusetzen – egal in welchem Dreierbündnis.